Kulturwandel bei Microsoft

Das passiert, wenn Unternehmen ihren Mitarbeitern mehr Autonomie anbieten

09.04.2020
Anzeige  In den vergangenen Jahren hat sich Microsoft radikal transformiert. Keimzelle der Modernisierung war die Software-Entwicklung: Mehr als 100.000 Developer sollten agiler arbeiten und erhielten mehr Verantwortung. Sam Guckenheimer hat diese Reise mitgeprägt, welche die Kultur des ganzen Unternehmens veränderte.
Software-Development braucht Autonomie, Können und Sinnhaftigkeit. Diese Werte legen den Grundstein für starke Entwickler-Teams.
Software-Development braucht Autonomie, Können und Sinnhaftigkeit. Diese Werte legen den Grundstein für starke Entwickler-Teams.
Foto: Microsoft

Jede Firma wird eine Software-Company? Die Binsenweisheit zur Digitalisierung scheint in erster Linie Maschinen- und Anlagenbauer, Automobilhersteller und Händler der Old Economy zu betreffen. Dabei wird häufig übersehen, dass selbst klassische Softwareunternehmen durch die Mühlen der Transformation müssen. Und der Prozess ist auch hier kein Selbstläufer: Er braucht Zeit, Antriebsenergie, Mut und ein klares Ziel, das jenseits des bekannten Horizonts liegt.

Der Wandel bei Microsoft wird häufig mit dem seit 2014 amtierenden Chef und Ballmer-Nachfolger Satya Nadella in Verbindung gebracht. "CEO Nadella baut Microsoft um", titelte exemplarisch das CIO-Magazin im Frühjahr 2018. Dabei hatte die Transformation des Branchenriesen lange Jahre zuvor eingesetzt. Keimzelle war die Software-Entwicklung, die "Produktionshalle" des Unternehmens aus mehr als 100.000 Entwicklern - um sie dreht sich die Geschichte einer gravierenden Veränderung.

Anfang des Jahrtausends arbeiteten Microsofts verschiedene Divisionen in der Regel drei Jahre daran, eine neues Windows zu entwickeln. Die Zyklen etwa von SQL Server waren noch länger. Über die Jahre waren die Arbeitsabläufe und Prozessketten komplex geworden, es fehlte an Agilität. Kundenfeedback ließ sich nicht kurzfristig aufgreifen, sondern musste für den nächsten Release in drei bis vier Jahren eingeplant werden.

Entwickler und Produktgruppen hockten in funktionalen Silos und bei Übergaben innerhalb der Teams fand stets das klassische Finger-Pointing mit den üblichen Vorwürfen statt: "Das ist nicht meine Aufgabe, und warum sind die anderen so langsam?" Wen wundert es: Die Zufriedenheit der Entwickler war mäßig. In Sachen Arbeitsplatz galt Microsoft als wenig innovativ, oftmals gar als verstaubt.

Anderswo arbeitete man zeitgemäßer - und effizienter

Zu dieser Zeit zeichneten sich neue Trends in der Software-Entwicklung ab. Open Source-Entwickler arbeiteten kreativer und effizienter und agile Methoden bahnten sich schnell ihren Weg. Alle großen Software-Anbieter mussten daran arbeiten, wettbewerbsfähiger zu werden.

Sam Guckenheimer kam 2003 zu Microsoft. Der Manager war seit den 90er Jahren für die Produktlinienstrategie bei Rational zuständig, einem Anbieter von Entwicklungs-Tools.
Sam Guckenheimer kam 2003 zu Microsoft. Der Manager war seit den 90er Jahren für die Produktlinienstrategie bei Rational zuständig, einem Anbieter von Entwicklungs-Tools.
Foto: Microsoft

2003 nahm Microsoft Kontakt zu Sam Guckenheimer auf und überzeugte ihn vom Wechsel nach Redmond. "Damals war Microsoft kein ernsthafter Lieferant im Enterprise-Markt mehr und ich war ziemlich skeptisch", erinnert sich Guckenheimer. Allerdings erkannte er die Möglichkeiten, die sich durch die Erschließung neuer Märkte ergeben würden. So wollte Microsoft etwa seine Verbindungen in die Developer-Szene nutzen, um auch Teams und Organisationen zu unterstützen - "als glaubwürdiger Anbieter".

Auf dem Weg sei viel passiert, so Guckenheimer rückblickend, der heute Product Owner von Azure DevOps ist, der DevOps-Plattform des Unternehmens. 2010 wurde bei Microsoft das Paradigma von Software-as-a-Service aufgegriffen und die Zukunft als SaaS-Provider entwickelt. Parallel engagierte sich Microsoft zunehmend in der Open-Source-Community. Mit Folgen: "Wir haben erkennen müssen, dass wir in der Softwareentwicklung zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich zu den großartigen Unternehmen zählten." Das alte Modell des "Command & Control" war mit einer modernen Softwarewelt nicht mehr vereinbar.

Microsofts Weg zum modernen Software-Unternehmen

Im Jahr 2012 wurde Accenture angeheuert mit dem Ziel, Microsofts Entwicklungsmethoden und Verfahren mit denen von Google, Facebook, Amazon sowie Netflix zu vergleichen. Die anerkannten, "born-in-the-cloud" Branchenführer dienten als Benchmark, und das Assessment sollte allen Ingenieuren helfen, die eigene Route in Richtung Cloud-native festzulegen. Nach der Analyse "einer Flut von Daten und Informationen" war klar, dass sich Grundpfeiler des Konzerns verändern würden, etwa Hierarchien, Berichtswege und Erlösmodelle. Am gravierendsten war jedoch der kulturelle Wandel.

Die neuen Full-Stack-Teams bei Microsoft bestehen aus Entwicklern, die begleitet werden von Product Ownern und Experten für Reliability Engineering, UX oder Daten-Wissenschaft.
Die neuen Full-Stack-Teams bei Microsoft bestehen aus Entwicklern, die begleitet werden von Product Ownern und Experten für Reliability Engineering, UX oder Daten-Wissenschaft.
Foto: Microsoft

Als einer der ersten Schritte wurden alte Hierarchien in der Entwicklungsorganisation vereinheitlicht. "Heute gibt es nur noch eine Karriereleiter sowohl für Developer als auch für Tester. Alle sind gleichgestellt und haben die gleichen Aufstiegsmöglichkeiten." Zudem wurden Full-Stack-Teams aus zehn bis 12 Experten installiert. "Die vertikale Bündelung der Kompetenzen stattet die Gruppe mit allen Fähigkeiten aus, um ihren Service umfassend und agil zu supporten."

"You build it, you run it, you love it"

Durch die Veränderung in Richtung DevOps wurde den Teams die Verantwortung für Definition, Implementierung und den Produktivbetrieb übertragen, berichtet Guckenheimer. Über die Telemetriedaten des Live-Betriebs wüssten sie zudem jederzeit, wie zufrieden ihre Kunden sind und wo es Baustellen gibt. "Das war ein jahrelanger und tiefgreifender Wandel", räumt der Software-Manager ein. "Aber wir haben eindeutig erkannt, dass die Zufriedenheit der Entwickler mit einem Mal enorm angestiegen ist." Die Mitarbeiter waren zufriedener mit ihren Jobs.

Für Guckenheimer liegt der Schlüssel zum Erfolg vor allem in der Autonomie der Entwickler: "Wir haben versucht, eine Welt zu schaffen, in der wir lediglich die Leitplanken durch die Organisation vorgeben", erzählt Guckenheimer. "Aber die Teams haben viel Autonomie darüber, welche Arbeit sie zum Beispiel innerhalb von Sprints leisten." Dazu bezieht er sich auf den Autor Daniel Pink, demzufolge die Motivation von Kreativen auf den Säulen Autonomie, Können und Sinngebung (Autonomy, Mastery, Purpose) basiert. "Wir können das eigene Handeln kontrollieren, unsere Kompetenzen ausüben, und wir wissen, warum wir das alles tun."

Auch CEO Satya Nadella, der selbst ein Entwickler ist, gab dem Wandel starken Rückenwind. Als eine seiner ersten Amtshandlungen sagte er 2014 das jährliche Company-Meeting ab, ein Mega-Event in einem Baseball-Stadion in Seattle. Stattdessen rief er eine Hackathon-Woche ins Leben, in der alle Microsoft-Mitarbeiter unabhängig von ihren jeweiligen Rollen an selbstdefinierten Projekten und neuen Technologien arbeiten können. Das inoffizielle Motto: Finde Deinen nächsten Job. Jedes Team reicht Videos oder den Code des Projekts ein, und eine Jury verteilt Auszeichnungen.

"Das war wie ein Dammbruch, der die ganze Energie im Unternehmen entfesselt hat", berichtet Guckenheimer. Durch den Schritt habe Nadella die Pyramide der Hierarchie im Unternehmen auf den Kopf gestellt und Rollengrenzen gesprengt: "Nun kommt die Energie aus der Autonomie, der Kompetenz und dem Stolz der Mitarbeiter - und ist Antrieb für die ganze Organisation."

Agile Transformation ist kein Spaziergang

Schwierige Entscheidungen, gravierende Veränderungen und Einschnitte blieben auch bei Microsoft nicht aus. Besonders betroffen ist der "Mittelstand" aus langjährigen Developern und Managern, die wissen, was man braucht, um ein Produkt zur Marktreife zu führen und um einen verlässlichen Service zu betreiben. Sie finden sich zwischen einem begeisterten CEO und jungen Mitarbeitern wieder und geraten unter Druck durch neue Verfahren oder Abläufe. Zweifel an der eigenen Relevanz kommen auf. Dadurch verändere sich manchmal ihr Dialog in der Organisation von "offen-angespannt" bis "passiv-aggressiv".

Laut Guckenheimer gelingt die Transformation nur, wenn man die erfahrenen Mitarbeiter und ihre Kompetenzen aufgreift und es schafft, sie mit einer Veränderungsmentalität zu verbinden - bei Microsoft wird dies als "Growth Mindset" bezeichnet. "Anstatt uns auf ein V-Modell von Anforderungen zu konzentrieren, streben wir danach, die Entwicklergeschwindigkeit durch verbesserte Transparenz, zuverlässige Daten und umfangreichere Feedbackschleifen zu verbessern."

Auf der kulturellen Ebene geht es nicht um die Umsatzsteigerung, sondern um die Gelegenheit, dass sich jeder Mitarbeiter fachlich und persönlich weiterentwickeln kann.
Auf der kulturellen Ebene geht es nicht um die Umsatzsteigerung, sondern um die Gelegenheit, dass sich jeder Mitarbeiter fachlich und persönlich weiterentwickeln kann.
Foto: Microsoft

Das Wunsch-Team als neues Leitbild für Zufriedenheit

Die Entwickler können alle 12 bis 18 Monate Präferenzen angeben für Gruppen und Aufgaben, an denen sie künftig arbeiten möchten. "Wir haben die Zufriedenheit der Entwickler eine Ebene höher gezogen und das Wunsch-Team als Leitbild verankert." Jeder Developer kann mit Stickern seine Vorlieben benennen, laut Guckenheimer erhalten erfahrungsgemäß rund 90 Prozent ihre erste Wahl. "Durch den Kreislauf bekommt jeder die Gelegenheit, Aufgaben hinter sich zu lassen und seinen wahren Interessen zu folgen - er muss einen ungeliebten Job nicht bis zum Ende seines Lebens machen."

Heute bearbeiten die rund 105.000 internen Entwickler täglich etwa 85.000 Deployments, 500.000 Work Items werden aktualisiert. "Unter dem Strich setzt Microsoft nun Veränderungen in Wochen um, nicht mehr in Jahren. Kundenwünsche können gar in Stunden realisiert werden. Das ist der der wichtigste Nutzen unserer DevOps-Transformation." Dass es einen Rückschritt geben wird, glaubt Guckenheimer nicht mehr - schon gar nicht ins alte Command & Control. Zu wichtig sei die Selbstbestimmtheit, um die kreative Kraft der Mitarbeiter freizusetzen.

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